Reisebericht von Barbara Onahor, Juli 2019

Land:

Unter verschiedenen Aspekten ist das Land seit meiner letzten Reise verändert:

Zunächst einmal schlägt sich die Reaktion der Regierung auf die Unruhen vom letzten Jahr in einer ständig und überall spürbaren Polizeipräsenz nieder. Vor allem ist Polizei an allen Kreisverkehren rund um die Uhr stationiert, außerdem stehen an den Carreteras in die Nachbarstädte Managuas Polizeisperren, an denen Fahrzeuge und Personen kontrolliert werden, hauptsächlich Motorradfahrer, denn unter den meist jüngeren Fahrern finden sich besonders viele der der Teilnahme an den Aufständen verdächtigen Studenten und Schüler. Natürlich finden sich so auch zusätzliche Einkünfte für Polizei und Regierung. 

Zudem finden häufig nächtliche Razzien statt, bei denen Verdächtige festgenommen werden und bei denen es immer wieder zu Morden durch die Polizei oder die Paramilitärs kommt, wenn sie irgendeiner Art von Widerstand begegnen. Auch aus den Gefängnissen, in denen immer noch um die hundert politische Gefangene sitzen, werden regelmäßig Todesfälle gemeldet. Freigelassene berichten über Folter.

Während meines Aufenthaltes fanden zwei Großveranstaltungen der Regierung statt, zu denen alle Staatsbediensteten unter Androhung von Entlassung anzutreten hatten. Den Bürgern wurde angeblich von der Regierung für die Teilnahme jeweils 200 Córdoba bezahlt, umgerechnet ca 6 Dollar, und Busse in allen Gemeinden zur Verfügung gestellt, sodass keine regulären Busse mehr verkehrten. Polizeibusse, öffentliche und Regierungsgebäude sind neben der Nationalflagge mit der schwarzroten sandinistischen Fahne geschmückt. Man stelle sich eine CDU-Fahne am Kanzleramt vor…

Die Leute haben wenig Lust auszugehen, abends sind auch am Wochenende die Straßen viel leerer als früher. Daneben ist für den Augenschein vieles verändert und auch verbessert worden. Durch die ständige Anwesenheit der Polizei auf der Straße sind weniger arbeitende Kinder an den Kreuzungen und auf den Märkten zu finden. Die Sauberkeit des öffentlichen Raumes hat sich stark verbessert. Laut unseren Partnern vor Ort gibt es Staatsbedienstete für die Reinigung. Es wurden – angeblich mit geliehenen Geldern oder mit Unterstützung durch Venezuela – zwei große Hochverteiler für die wichtigsten Carreteras gebaut. Viele der vorher gepflasterten Straßen sind nun geteert. Nach Angaben unserer Kontaktpersonen deswegen, weil sich aus den Pflastersteinen hervorragend Barrikaden bauen ließen und sie bei Straßenschlachten auch geworfen wurden.

Es sind etliche neue Einkaufszentren und Bürogebäude hochgezogen worden, die angeblich Familienmitgliedern von Daniel Ortega oder seiner Frau Rosario Murillo gehören, wegen der wirkenden Boykotte und der Blockade der Finanzmittel stehen viele davon aber leer. Allerdings ist die Strom- und vor allem die Wasserversorgung nicht nennenswert verbessert. Zu regelmäßigen Zeiten werden ganze Stadtviertel für 8-10 Stunden von der Versorgung genommen. Ebenso wenig hat sich die wirtschaftliche Lage der Einwohner verbessert. Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei ca 80%. Die Kriminalität ist nicht spürbar gesunken. Man kann z.B. nicht aus dem Auto steigen oder stehenbleiben, um einer hilflosen Person zu helfen, da diese Köder einer Falle sein kann. Zweimal sahen wir Menschen, die offenbar tot am Straßenrand lagen, keiner hielt oder half. Außerdem ist es nicht ratsam, Taxen zu nehmen, da auch diese ab und zu Köder sind, die die Passagiere an einsame Orte fahren, wo diese dann ausgeraubt werden.

Die Steuern auf etliche Luxusgüter wie Alkohol und Zigaretten (Preisplus von 60-80 Prozent) sowie die Bußgelder für Verkehrsvergehen wurden drastisch erhöht, um die Bevölkerung für die ausbleibenden Einnahmen aufkommen zu lassen. Außerdem galoppieren die Preise für Grundnahrungsmittel.

Unter Freunden und Bekannten und innerhalb der Familie wird genau abgewägt, mit wem man offen sprechen kann, oder wer ein „Sapo“ – also ein Sandinist – ist. Es besteht die Befürchtung, dass zu den nächsten Wahlen 2021 wieder keine internationalen Beobachter zugelassen werden und dass auch in der Weltöffentlichkeit kein gesteigertes Interesse an dem zu erwartenden Wahlbetrug besteht. Angeblich besteht die Wahlkommission nur aus Mitgliedern des FLNP. Insgesamt stellt sich die Lage als jederzeit explosiv dar.


Projekte:

Alle unsere Projekte laufen wie durch spezielle Unterstützung (von  Alheides Chef?) hervorragend. Ein Gespräch mit Eddy Morales von OrphaNetwork war sehr aufschlussreich: die Organisation hatte letztes Jahr dem Kinderheim eine Unterstützung von 12 500 Dollar monatlich (150 000 jährlich) zugesagt. Kurz darauf stellte sich heraus, dass davon über 100 000 Dollar nicht gesichert waren. Die nordamerikanischen Gruppen, die normalerweise diese Mittel zur Verfügung stellen, konnten nicht anreisen. Viele Gespräche mit den Pastoren in USA waren nötig, um schließlich einen Großteil des Defizits auszugleichen. Wenn die Zusage nicht schon gegeben gewesen wäre, wären erhebliche Einschnitte in der Arbeit des Heimes die Folge gewesen. So konnten alle Gruppen gehalten werden, da für alle Kinder Nahrungsmittel gekauft werden konnten und die Zusatzangebote wie Englisch-, Computer-, Tanz- und Musikstunden können weiter stattfinden. 

Momentan leben 35 Kinder und Jugendliche im Alter von 7-19 Jahren ständig im Heim, darunter 3 behinderte Jugendliche. Davon sind 12 jüngere Kinder von 7 bis ca 10-11 Jahren und 7 männliche Jugendliche zwischen 12 und 14. Der größte Teil sind junge Mädchen ab 12 Jahren. Dazu kommen ca 20 Kinder zur Tagesbetreuung inklusive Mahlzeiten. Viele unserer Kinder und Jugendlichen sind Opfer von Missbrauch geworden sind. Dieser Schwerpunkt ergab sich durch den Wunsch des Familienministeriums wegen besonderen Bedarfs. Unsere drei Psychologinnen haben alle eine Spezialisierung auf diesem Gebiet. Die Psychologin Nidia Gutierrez, die Tochter der aktuellen Direktorin Carolina Alguera, hatte während meines Aufenthaltes ihre letzten Arbeitstage im Kinderheim. Sie hat einen neuen Arbeitsplatz mit annähernd doppeltem Gehalt bei einem nordamerikanischen Träger gefunden. Ersatz ist gefunden: die Psychologin Nancily wurde von Nidia eingearbeitet und ist nun dabei, die Kinder und Jugendlichen kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Jede Gruppe hat 2 jeweils halbwöchig arbeitende Erzieherinnen, die von einer Hilfskraft unterstützt werden. Ebenso wird in der Küche im Schichtbetrieb gearbeitet, mit kräftiger Unterstützung durch die größeren Kinder.  

Die Gruppendynamik in den Gruppen ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Am schwierigsten ist wohl die Arbeit mit den jugendlichen Mädchen, die permanent versuchen, ihre Erzieherinnen und Psychologinnen aber auch ihre Mitbewohnerinnen gegeneinander auszuspielen. 

Ich hatte dreimal Gelegenheit, bei den Dienstübergaben der Erzieherinnen dabeizusein und konnte an den Schwierigkeiten Anteil nehmen. In Anwesenheit der Psychologinnen werden problematische Situationen der vergangenen Tage aufgearbeitet und reflektiert. Dadurch werden auch die Erzieherinnen psychologisch begleitet. Für alle Mitarbeiter des Heimes, einschließlich der Wächter, Feldarbeiter und Köchinnen, finden regelmäßig erzieherische Weiterbildungen statt, um alle zu befähigen, mit unseren Kindern angemessen umzugehen. Während meines Aufenthaltes kam es zu zwei Situationen, in denen wieder der Wunsch nach einer Waffe geäußert wurde: einmal war in El Cañon die Leiche einer Frau entdeckt worden und ein Verdächtiger hatte sich irgendwo in der Umgebung in der Natur versteckt. Alle hatten große Angst vor einem „Besuch“. Das zweite Mal wurde nachts – trotz Wächter mit großem Hund – in die Werkstatt eingebrochen und der Werkzeugkasten und die Bohrmaschine gestohlen. Allgemein herrscht die Vorstellung, falls bekannt wäre, dass der Wächter eine Waffe hat, würde das Gelände besser respektiert. Die Polizei kommt nicht mehr zu Streifen oder wegen Bagatellen wie einem Werkzeugkasten in den Cañon – sie wird ja an den Kreisverkehren gebraucht – und überlässt die Gegend so der Gesetzlosigkeit. 

Jugendliche, die keine Familien haben, in die sie irgendwann zurückkehren können, und die nach Schulabschluss ein Studium oder eine Ausbildung machen, können durch eine Wiederannäherung der Einrichtungen wieder problemlos in die damals von uns unter Leitung von Maria José ins Leben gerufene Casa de Transición ziehen. Dieses Übergangshaus dient der Abnabelung und Anpassung an das Leben der Erwachsenen. Die Jugendlichen haben größere Freiheiten und können sich mehr entfalten. Pastor Josué Campos arbeitet dort nicht mehr. Wegen Klagen der Jugendlichen hat ihn die amerikanische Unterstützeroganisation von dort abgezogen.

Im Übergangshaus wird momentan wegen großer Nachfrage ein Zentrum für junge Mütter (in ländlichen oder armen Gegenden bekommen junge Mädchen im Durchschnitt (!) mit 15 Jahren ihr erstes Kind) mit ihren Kindern eingerichtet, sie bekommen eine Ausbildung ermöglicht. Die meisten brauchen einen sicheren Zufluchtsort vor Gewalt oder Ausnutzung durch ihre Männer. 

Die Schulen laufen gut:

MLK im Cañon: diese Schule hat aktuell ca. 270 Schüler. Seit Schuljahresbeginn 2018 hat die Schule eine Secundaria (Oberschule) aktuell bis inklusive 9. Klasse. Die Lehrer sind nach Probezeit fest angestellt und können dank Stipendien bezahlt werden, die die Schüler aus besonders armen Familien bzw aus dem Kinderheim durch Engagement der Direktorin Maria Elena von Road Hope erhalten. Allseits – auch in der Bevölkerung – wird diese Oberschule als große Chance auf mehr Bildung, mehr Kultur und besseren Lebensstandard im Cañon gesehen. 

Die Schule La Esperanza in Managua hat momentan nur knapp 80 Schüler. Es gibt andere Schulen in der Umgebung, sodass keine große Nachfrage besteht. Allerdings würde dringend eine Art Kinderkrippe oder Kinderhort gebraucht, da viele Mütter, die gerne arbeiten würden, dies derzeit wegen mangelnder Betreuungsmöglichkeiten nicht können. Diese Betreuung könnte kostenpflichtig angeboten werden, aber günstiger als die der staatlichen Einrichtungen. SIANIJ zieht eine Umwidmung in Betracht.

Schule Centroamericana in Nagarote:Es besteht nach wie vor der Wunsch der Eltern nach einer Secundaria. Die Direktorin Milagros ist allerdings nicht ganz so umtriebig wie Maria Elena oder Sandra, die Schule läuft auch so sehr gut, sie liegt in einer Kleinstadt im ländlichen Raum und wird gut angenommen: aktuell hat sie 220 Schüler. Zu überlegen wäre zur Einrichtung einer Secundaria ein Stipendienprogramm aus Deutschland (20$ wären monatlich nötig), möglicherweise mit Kontakt mit den Schülern – mit strengen Richtlinien für die Spender (dass zum Beispiel nicht auf Bettelbriefe eingegangen werden soll, etc.)

Im Familienhilfsprogramm werden aktuell 53 Familien unterstützt. Neben dem Schulbesuch der Kinder, der dokumentiert und kontrolliert wird, werden die Familien regelmäßig besucht, die meisten stehen sowohl mit Carolina als auch dem Pastor Luis Alfaro, der die Familien in El Cañon und Managua betreut, in Kontakt und bekommen z.B. bei Krankheit oder anderen Ereignissen wenn nötig Hilfe. Im Barrio Cristo Rey in Tipitapa erfolgt die Betreuung durch einen dortigen Pfarrer, der jedoch nicht die optimale Person für diese Aufgabe zu sein scheint. Er wird bei der Übergabe der Säcke und bei der Einrichtung eines Comedors (Mahlzeit für arme Kinder zweimal in der Woche) nah betreut (um nicht zu sagen kontrolliert) damit alles bei den Bedürftigen ankommt. Dieser Comedor scheint unter den herrschenden Bedingungen sehr nötig zu sein, die Kinder stürzen sich wie ausgehungert auf die Mahlzeiten. Hier könnte man zusätzlich tätig werden. 

Durch die Spenden, die ich mitbringen konnte, konnte ich bei den Familienmüttern nachfragen, ob sie ein Projekt haben, mit dem sie sich vorstellen können, etwas Geld zu verdienen, um ihre Familien voranzubringen. Von zwei Müttern kam diesbezüglich Rückmeldung: eine möchte sich einen Packen Second Hand Kleider kaufen, um damit einen Handel zu beginnen, die andere vor ihrer Hütte einen Stand mit Nacatamales (lokales „Fastfood“) beginnen. Dafür bekommen sie nun finanzielle Unterstützung, die als Kredit deklariert ist, um die Versuchung zu reduzieren, das Geld einfach auszugeben. Auch diese Projekte möchte Carolina engmaschig weiterbetreuen. Zwei weitere Frauen baten um Geld, um ihre sehr baufälligen Hütten auszubessern. Im Rahmen des Möglichen wird geholfen, allerdings ist die Hilfe zur Selbsthilfe vorrangig. Vielleicht können wir die Familien demnächst vorstellen und möglicherweise Spenden für ein paar Möbel und die notwendigsten Reparaturen erzielen. 

Ebenso wäre es wünschenswert, im Haushalt des Heimes Gelder für Ausflüge zu haben. Da zur Zeit wenige nordamerikanische Gruppen kommen, kommen die Kids selten raus und sind ganz gierig danach. Da Schulferien waren, haben wir von meinem mitgebrachten Geld einen Bus gemietet und sind mit allen Kindern einen Tag ans Meer gefahren. Außerdem haben die Erzieherinnen mit mir oder ohne mich kleinere Wanderungen mit kleinen Gruppen unternommen. Schön ist, dass intern viel mehr Aktivitäten angeboten werden. Außerdem hat nun jedes Kind und Jugendlicher sein privates Fach mit Kleidern, persönlichen Dingen und eigene Spielsachen. Das führt zu viel mehr Sorgfalt, sowohl mit Wäsche als auch mit den Spielsachen, von denen selten was draußen liegen bleibt. Außerdem essen die Kinder in ihren jeweiligen Häusern, was für eine viel familiärere Atmosphäre sorgt. Die Kinder fühlen sich geborgen und vermitteln das auch. Sie belagern Besucher nicht mehr  sondern setzen ganz selbstverständlich ihr Spiel fort. Auch ich wurde zwar wohlwollend aber doch distanziert empfangen. 

Insgesamt hat das Heim auf mich einen noch positiveren Eindruck gemacht als beim letzten Besuch (bestätigt haben dies Mitglieder einer amerikanischen Gruppe, die schon öfter da waren, und die rumzuführen ich an einem Nachmittag gebeten wurde). Ich hatte Gelegenheit, auch in die Probleme und Querelen im Heimalltag Einblick zu haben und in die Strategien zum Umgang damit, der mir in jeder Hinsicht angemessen erschien.

In Carolinas Büro, das nun neben ihrem Wohnhaus im Haus ihrer Mutter Doña Nidia liegt, hatte ich Gelegenheit, anhand der Unterlagen die Buchhaltung für den Monat Januar diesen Jahres zu prüfen. Mir wurden alle Ordner vorgelegt, ich konnte auswählen. Alles erschien mir transparent und alle Fragen wurden mir ausführlich entweder von Carolina oder von Elena (Buchhalterin) beantwortet. Ich konnte mitverfolgen, wie die Tage verlaufen, was alles getan werden muss und wieviel Zeit alles kostet, z.B. ein einfacher Besuch bei der Bank oder ein Termin mit einem Ministerialbeamten, Verhandlungen mit Spendern, Betteln um Lebensmittelspenden, die Geld sparen helfen, Aufträge und Einkäufe zu koordinieren, Arzt- und Krankenhaustermine auszumachen und dafür zu sorgen, dass die Kinder gebracht werden, Unstimmigkeiten zwischen Direktorinnen und Erzieherinnen bzw. Lehrerinnen zu schlichten, etc etc.

Die Arbeit, die Carolina leistet, kann meiner Meinung nach kaum zu hoch eingeschätzt werden. Da eben konnte ich beobachten, dass die weiblichen Teenager mit allen Problemen zu ihr kommen, da sie immer ein Ohr hat und Lösungen anbietet, auch mal mit Erzieherinnen oder Direktorin Cinthya vermittelt. Auch die Arbeit mit den Familien der Heimkinder läuft zum großen Teil über sie: Wer kommt wann zu Besuch? Sind Ferienaufenthalte bei Angehörigen möglich? Was plant das Familienministerium für die einzelnen Kinder? Was halten Erzieherinnen und Psychologinnen davon?

Mein Fazit ist, dass wir ein Projekt unterstützen, dass ohne Einschränkung positiv wirkt und unser Engagement auf ganzer Linie wert ist. 

Meine Empfehlung wäre, in den nächsten 1 bis 2 Jahren Pastor Luis Alfaro einzuladen, der in seine Aufgabe hineingewachsen ist und sich weiter entwickelt. Ich glaube, er kann hier bei manchem Spenderkreis für frischen Wind sorgen.

Liebe Grüße, Barbara 

Weitere Ausführungen über Barbara Onahors Besuch in Nicaragua finden sie in der Rubrik Reiseberichte